“Leben mit Nano – auf dem Weg zur Probabilitätsgesellschaft” von Prof. Ralf B. Wehrspohn

Unter dem Banner der Nanotechnologie kooperieren Physiker/-innen, Chemiker/-innen, Biologen/-innen, Informatiker/-innen, Ingenieur/innen beim Studium kleinster atomarer Strukturen. In vielen dezentralen Forschungsprogrammen geht es um die Optimierung vorhandener Technologien und Werkstoffe durch neue Analyse- und Fertigungsverfahren wie z.B. bei der Herstellung höchst widerstandsfähiger Oberflächen oder, allgemeiner gesprochen, der Herstellung  ressourceneffizienter „intelligenter“ Materialien. Das Forschungsfeld der Nanotechnologie wird von technologischen Zukunftsutopien zusammengehalten, die ihr öffentliches Bild weitgehend prägen. Beispielhaft für die “molekulare Nanotechnologie” sind die von Eric Drexler propagierten Assembler, d.h. selbst-reproduzierende molekulare Maschinen, die in großer Zahl makroskopisch bedeutende Mengen molekularer Stoffe herstellen. Weiterhin wurde das Nanoengineering erst durch bildgebende Verfahren mit atomarer Auflösung möglich. Gerade dieses Hilfsmittel stellt auch die Schnittstelle zur öffentlichen Rezeption der Nanotechnologie dar. Bei den Herausgebern populärwissenschaftlicher Magazine erfreuen sich die bunten Nano-Bilder umso größerer Beliebtheit, je anthropomorpher sie gedeutet werden können. Nicht zuletzt deshalb ist die Nanotechnologie in den letzten Jahren zu einen Studienobjekt der Geistes- und Sozialwissenschaften geworden. Von der Ästhetik der Nanowelten bis zur soziologischen Untersuchung des Nano-Hypes erstreckt sich ein breiter Forschungsdiskurs, der in zunehmendem Maße philosophische Fragen einschließt. Diese konzentrieren sich vor allem auf Fragen des repräsentativen Gehaltes der Nano-Bilder und der epistemologischen und ethischen Aspekte einer derart neuen Technologie. Dabei sticht die Tatsache ins Auge, dass die ethischen Folgen molekularer Nanotechnologie bereits erörtert werden, obwohl diese technologisch gesehen in weitaus größerer Ferne liegt als etwa die Gentechnologie.

Zusammen mit dem futuristisch anmutenden Diskurs über die Nanowelt ergibt sich eine überraschende Zeitenfolge im Verhältnis zwischen Gesellschaft, Wissenschaft, Technologie, Menschenbild und Öffentlichkeit. Der öffentliche Diskurs über die Nanowelt geht der entsprechenden Wissenschafts- und Technologieentwicklung im Wesentlichen weit voraus. Aus bereits vorhandenen visuellen Erfahrungen und in Analogie zu anderen neuen Technologien wird bereits heute ein nanotechnologisches Menschenbild entworfen, das via Öffentlichkeit und Förderstruktur auf die Wissenschaft selbst rückwirkt. Ob solcherart propagiertes technologisches Design jemals realisiert wird, und in welche Richtung sich dadurch unser Menschenbild letztlich ändern wird, bleibt offen. Während die Nanowelt technologisch vollkommen neuartig ist, so gilt dies aus physikalischer Perspektive nur bedingt. Denn die Nanotechnologie ist nicht zuletzt auch eine Anwendung der Quantenmechanik, bei der infolge des instrumentellen Fortschritts nun viele derjenigen Gedankenexperimente realisiert werden können, die in den 1920er und 1930er Jahren unser wissenschaftliches Weltbild nachhaltig verändert haben. Vor allem gilt dies für die in Schrödingers Katze bildlich gewordene Erkenntnis, dass bestimmte Fragen auf atomarer Ebene nur durch Wahrscheinlichkeiten beantwortet werden können. Da allerdings Anwendungen der entsprechenden Effekte außer Reichweite lagen, beschränkte sich die Relevanz der Quantenmechanik auf das wissenschaftliche Weltbild. Die Nanotechnologie bringt diese Fragen in die Lebenswelt. Hatten sich bisher am Einstein-Podolsky-Rosen-Problem die philosophischen Interpretationen über die Realität und Lokalität atomarer Zustände entzündet, so wird aus der Verschränkung weit entfernter Quantenzustände heute eine nahezu perfekte Technik zur Nachrichtenverschlüsselung.

Es ist momentan davon auszugehen, dass Nanotechnologie und Nanoinformatik das Verhältnis des Menschen zur modernen Technik verändern werden. Dies gilt insbesondere, wenn eine neue Qualität der Nanotechnologie in den Blick genommen wird. Denn abhängig von ihrem Design kann Nanotechnologie quantenmechanische Effekte wie Verschränkungszustände und Unschärfe in den Bereich der sozialen Erfahrung bringen. Das würde heißen, dass die Kontingenzkompetenz und damit der Pragmatismus unserer Gesellschaft durch eine grundlegend neue Form der Unsicherheit “getestet” würde, denn diese neue Qualität der Unsicherheit beruht nicht auf mangelnder Information. D.h. die nanotechnologische Physikalisierung von Informationen markiert eine neue Dimension der Informationsgesellschaft.

Eine zentrale Fragestellung ist daher das Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Weltbild und dem technologischen Menschenbild. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass schon heute ein hohes Maß an gesellschaftlichen Unsicherheiten aufgrund von beruflichen, zwischenmenschlichen, medizinischen und auch steuerungspolitischen Wahrscheinlichkeiten existiert. Diese Formen der gesellschaftlichen Unsicherheiten werden nun durch die an die Oberfläche tretenden quantenmechanischen Unsicherheiten der Nanotechnologie überlagert und teilweise verschränkt. Sie erfordern von der Gesellschaft sich verstärkt mit Unsicherheiten und Probabilitäten auseinanderzusetzen, diese zu erklären und auch auszuhalten. Ein Weg zur Probabilitätsgesellschaft könnte daher die Lösung ein, also ein politisch und gesellschaftlich offenes Umgehen mit Unsicherheiten, selbst wenn diese nicht mehr an mangelnden Informationen liegen.

Der Information und – dialogischen – Kommunikation über diese neue Dimension und ihre Möglichkeiten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Denn Wissenschaft ist Kultur. Und wie Kultur durchdringt Wissenschaft, Forschung und technologische Innovation in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen und z.T. enormen Auswirkungen mehr denn je den Alltag des Gemeinwesens wie eines jeden einzelnen.

Über den Autor:

Professor Ralf. B. Wehrspohn wurde gemeinsam durch die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und die Fraunhofer-Gesellschaft nach Halle berufen. Als jüngster Institutsleiter in der Fraunhofer-Gesellschaft leitet er seit 2006 das Fraunhofer IWM gemeinsam mit Professor Peter Gumbsch. An der Martin-Luther-Universität in Halle hat er einen Lehrstuhl für Mikrostrukturbasiertes Materialdesign.

Ralf B. Wehrspohn studierte Physik an der Universität Oldenburg und promovierte im Alter von 26 Jahren an der École Polytechnique in Frankreich. Mit 32 Jahren wurde er Professor an der Universität Paderborn. Dazwischen war er in der Industrie bei Philips Research in London tätig und habilitierte am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle.
Die Arbeitsschwerpunkte von Ralf B. Wehrspohn sind nanostrukturierte Materialien und Bauelemente, wie sie beispielsweise in der Mikroelektronik, Sensorik, Photonik oder in der Photovoltaik zum Einsatz kommen. Seine Arbeiten wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet: Ralf B. Wehrspohn ist Heinz Maier-Leibniz-Preisträger der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Preisträger des Wissenschaftsverbundpreises von DOW Chemical sowie Innovationspreisträger des Massachussetts Institute of Technology MIT (TR100). Die Financial Times Deutschland zählte ihn 2004 zu den 101 innovativsten Köpfen Deutschlands.